77 Jahre ist es inzwischen her. Das Ende des Holocausts, die Befreiung des KZ Auschwitz und dann das Ende des Zweiten Weltkrieges. Jedes Jahr am 27. Januar begeht die Welt den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (International Holocaust Remembrance Day)
77 Jahre sind eine lange Zeit aber irgendwie dann auch wieder sehr kurz.
Nicht erst seit unserer Arbeit mit Holocaustüberlebenden Juden fragen wir uns: „Wie konnten Menschen so etwas tun?“
In den letzten Tagen schauen wir im Fernsehen den Film „Die Wannseekonferenz“.
Eineinhalb Stunden kaum auszuhaltende, abstruse Kommunikation zwischen 14 Männern, protokolliert von einer Frau. Dialoge zur „Endlösung der Judenfrage“, die wie ein normales Meeting einer Logistikfirma klingen. Die Organisation von effizientem Massenmord. Besprechung mit anschließendem Frühstück – so lautete die Einladung, die Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei ausgesprochen hatte.
Ganz normale Männer?
Bestien? Kranke? Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung?
Einen Tag später stoßen wir auf eine spannende Dokumentation, „Ganz normale Männer“ die genau dieser Frage nachgeht: Wer waren diese Männer, die auf Frauen, Kinder und Alte schossen? Die zu skrupellosen Tötungsmaschinen wurden?
Wir stoßen auf einen überraschenden Hinweis. Es war keinesfalls so, dass diese Männer keine Wahl hatten. Dass sie töten mussten, um nicht selbst getötet zu werden. Vielmehr hatten die allermeisten die Möglichkeit, sich zu verweigern, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen.
Professor Harald Welzer, Sozialpsychologe, stellt allerdings in dieser Doku nüchtern fest, dass die Verweigerer ein hohes Maß an Stärke mitbringen mussten, um dem Gruppendruck nicht zu erliegen.
Am Ende dieser Dokumentation bleibt das schmerzliche Fazit, dass in einem Krieg jeder zum Mörder werden kann.
Resilienz – Die Kraft aus (tödlichen) Systemen auszusteigen
Resilienz hat also nicht nur damit zu tun, den Stürmen des Lebens zu trotzen und irgendwie am Ende stärker und reifer herauszukommen.
Resilienz ist nicht Self-Care und Self-Love, damit ICH ein gutes, wohlhabendes und behütetes Leben führen kann.
Resilienz hat mit Charakterstärke zu tun. Mit Mut, mein Denken nicht toxischen Systemen unterzuordnen, sondern selber zu denken und mutig zu handeln.
Warum haben die einen damals mitgemacht und die anderen sind in den Widerstand gegangen?
Warum haben die einen getötet und die anderen Leben gerettet?
Die Antwort kennen wir nicht. Sie ist persönlich, komplex und individuell. Hier spielen nicht nur die eigene Prägung, der individuelle Charakter und die Überzeugungen eines Menschen eine Rolle, sondern ebenso die geistliche Umnachtung und tiefe Dunkelheit, in der Deutschland damals lebte.
Die Wahrheit macht frei
Einen Mann lernen wir in dieser Dokumentation kennen, der weiß, wie sich die verschiedenen Resilienz-Säulen zu einem starken und mutigen Charakter verbinden: Benjamin Ferencz – heute 101 Jahre alt.
Der US-Amerikaner Benjamin Ferencz ist der letzte noch lebende Chefankläger im sogenannten „Einsatzgruppen-Prozess“. Vor 75 Jahren hat er in Nürnberg 22 Angehörigen der nationalsozialistischen SS den Prozess gemacht. Am 15. September 1947 hielt Ferencz im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes sein Eröffnungsplädoyer. Er war mit 27 Jahren der jüngste Chefankläger der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, die nach 1946 von den Vereinigten Staaten allein weitergeführt wurden.
Ein Mann mit Ausstrahlung, Ruhe und Autorität.
Einer, von dem wir lernen können:
- Das Leben fordert nicht Perfektion, sondern mutiges Handeln. Obwohl Hunderte Anführer, Kommandeure und Offiziere für den Holocaust verantwortlich sind und sich schuldig gemacht haben, kann Ferencz nur 22 von ihnen den Prozess machen. Es gibt keine perfekte Gerechtigkeit. – Tu, was du tun kannst!
- Erzähle der Welt deine Wahrheit.[1] Ferencz ist dabei, als die USA die ersten KZ`s befreien. Was er sieht, kann er nicht fassen. Er spaltet es ab, sagt sich selbst: Das ist ein Film, so etwas gibt es im wirklichen Leben nicht. – Damals fasst er den Entschluss, die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen.
- Gib niemals auf. Als ihm in seinem Hauptquartier in Berlin ein Mitarbeiter detaillierte Berichte über die Erschießungen von 1 Millionen Juden übergibt, geht er zu seinem Vorgesetzten und versucht, ihn zu überreden, daraus einen großangelegten Prozess zu machen. Sein Chef lehnt ab – die USA hat kein Budget dafür und keine Mitarbeiter. Ferencz lässt nicht locker, bis er lapidar gesagt bekommt: Dann mach es doch selbst. Das ist der Beginn der Nürnberger Prozesse.
- Bleibe optimistisch – das ist das Lebensmotto von Benjamin Ferencz. Angesichts des Elends und der Verzweiflung, die er hautnah auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges und in den KZ`s mitbekommen hat, ist Optimismus nicht das erste, was wir bei ihm erwarten würden. Aber sein Humor ist ansteckend. Seine fröhliche Sicht auf das Leben und seine 101 Liegestützen, die er täglich macht, inspirieren uns.
Resilienz ist mehr und kann mehr. Sie kann uns zu Menschen machen, die sich für Menschlichkeit einsetzen.
Sie kann uns in der dicksten Krise und dem schlimmsten Schmerz die Hoffnung auf ein Leben nach der Krise geben.
Resilienz macht Sinn. Weit über diese Welt und ihre Ungerechtigkeiten hinaus.
[1] Benjamin Ferencz, Sag immer Deine Wahrheit, Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben, Heyne Verlag 2020