Ich sitze auf unserer Terrasse. Vor mir das Meer, das Wasser verschwimmt mit dem Horizont. Abwechselnd tauchen Segelboote und Yachten auf. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel, der Jasmin betört mich mit seinem atemberaubenden Duft. Ginster und Oleander blühen um die Wette. Neben mir ein gutes Glas französischer Rotwein. Zurzeit lebe und arbeite ich im Paradies.
Vor vielen Jahren sah mein Leben ganz anders aus. Ich lebte im Jammertal. Die Kinder waren klein; ich hatte den Eindruck, gelebt zu werden und an zu Hause gekettet zu sein. Ich wollte so gerne – ich hätte so gerne – Ich würde so gerne. So begann beinahe jeder Satz.
In dieser Zeit lernte ich Karin kennen und begann meinen persönlichen Weg heraus aus meinem Jammertal. Als ich eines Tages wieder einmal bei ihr am jammern war, meinte Karin: „Dann stell doch eine Haushaltshilfe ein und geh wieder arbeiten.“ Mein Gehirn reagierte prompt: Das macht man nicht, meinen Haushalt kriege ich noch alleine auf die Reihe. Was würden meine Eltern sagen, die liebe Verwandtschaft oder Freunde?
Eine Haushaltshilfe – das klang verdächtig nach Faulheit, das Leben nicht auf die Reihe bekommen, Unzufriedenheit, … Aber genau das entsprach der Tatsache. Als Kleinkindmama war ich unzufrieden. Ich hätte gerne gearbeitet, aber als Pastorenfrau war es gewünscht, dass ich zu Hause blieb und fröhlich meinem Mann den Rücken stärkte.
Als mein Mann eine Stelle als Therapeut und Seelsorger in Hessen angeboten bekam, mußte ich zum Vorstellungsgespräch mitkommen. Gefragt nach meinen Perspektiven, antwortete ich: „Ich schaue mich nach einem Job um.“ Die Frage kam prompt und misstrauisch: „Und ihre Kinder?“ „Die stellen wir tagsüber in den Schrank“, hätte ich am liebsten geantwortet, aber natürlich verkniff ich mir diesen Kommentar, die Chancen meines Mannes auf diesen Job wären sonst merklich gesunken.
Mach doch, was du willst
Seitdem Karin mein Denkgerüst gründlich hinterfragt hat – habe ich Schritt für Schritt begonnen, zu tun, was ich will. Und begegne seitdem immer mehr Menschen, die gerne dasselbe tun würden, ABER….. Warum tun so viele Menschen nicht, was sie so gerne tun würden? Warum lassen wir uns von anderen diktieren, was man tut? Und warum sterben so viele Menschen mit einem „Hätte ich doch nur…“ auf den Lippen?
Ich liebe die israelische Serie „Shtisel“. Sie spielt im ultra-orthodoxen Jerusalemer Viertel Mea Shearim. Das Leben dort ist geprägt von Regeln, Gesetzen der Thora, Traditionen und Sicherheit. Von Klein an ist klar, was geht und was nicht. Shulem Shtisel, der Vater und Übervater des jungen Akiva Shtisel bestimmt das Leben, Denken und Handeln der gesamten Familie.
Und dann gibt es diese eine bewegende Szene: Shulems Mutter, hochbetagt und im Altersheim, wünscht sich noch einmal nach Tel Aviv zu kommen und das Meer zu sehen. Ihre Familie findet diesen Wunsch aberwitzig. Was will die alte Oma in Tel Aviv? Was bringt der Blick aufs Meer?
Keiner hat Zeit, jeder vertröstet die alte Dame.
Wenn Oma endlich tut, was sie will
Einige Szenen später bekommt Shulem einen Anruf aus dem Altersheim. Seine Mutter wurde auf einer Bank am Strand von Tel-Aviv gefunden – tot. Erst im Rückblick wird klar – die Mutter ahnte ihren nahenden Tod. Als keiner aus ihrer Familie Zeit hatte, nahm sie sich ein Taxi, fuhr nach Tel-Aviv und setzte sich dort an den Strand, den Blick aufs Meer gerichtet, angekommen, bereit zu gehen.
Diese Szene trifft einen Nerv bei mir. Mach doch was du willst. Und wenn alle anderen es dumm finden, so etwas niemals tun würden – tu es. Es ist dein Leben. Lebe es – wild und verrückt, einmalig und kunterbunt
Das Meer lehrt mich – ich lasse mich nicht bändigen, ich trete auch mal über die Ufer, in mir brodelt auch mal ein Tsunami. Es gibt Ebbe und Flut – ich kann da sein und mich auch mal zurückziehen. Für die einen bin ich Lebensraum, für den anderen Sehnsuchtsort. Ich bin Grenze und gleichzeitig Wagnis.
Einer hat es gewagt und ist auf dem Wasser gelaufen. Seitdem sind ihm viele gefolgt. Und sie haben die Erfahrung gemacht: Das Wasser trägt. Mach doch was du willst. Kümmere dich nicht um Naturgesetze, um das kleine Denken der anderen, um Sprüche und Warnungen.
Tu es. Steig aus deinem Boot aus und lauf auf dem Wasser.