Wir sind zu Gast bei einem Vortrag unseres Freundes. Mit seiner Familie lebt er seit fast zehn Jahren in Israel. Den 7. Oktober 2023 und die darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen hat er hautnah mitbekommen. Nächte mit Raketenalarm, die er mit seiner Familie unter der Treppe verbracht hat. Ängste um ihren Ältesten, der als Soldat im IDF dient.
Und dann fällt der eine Satz, der uns aufhorchen lässt: „In Israel mag man es nicht, wenn Menschen jammern. Wir erleben alle Schweres.“ Er erklärt uns, dass Israelis sich abwenden, wenn sie nach der Frage „Wie geht´s Dir“ eine lange Antwort bekommen, in der das Gegenüber alles Schwere und Herausfordernde aufzählt, das er im Moment erlebt. Nicht selten unterbricht der Fragende dann das Lamentieren mit den Worten: „Du schaffst das schon.“
Für Deutsche eine Zumutung. Wo bleiben denn bitte echtes Interesse und Empathie?
Jammern – eine Definition
Aber was ist eigentlich jammern? Wozu tun wir es? Und wie finden wir den Ausweg aus dem Jammertal?
Wenn wir nach der Wortbedeutung von jammern fragen, bekommen wir vom Duden die Antwort: sich weinerlich (und traurig) beschweren, wehklagen.
Von der Ethymologie her steckt im jammern das Wort lamentieren, was so viel bedeutet, wie laut und ausgiebig klagen.
2011 erschien ein Buch der Psychologen Michael Thiel und Annika Lohstroh mit dem bemerkenswerten Titel: Deutschland, einig Jammerland. Dabei geht es den Autoren nicht darum, das Jammern per se schlecht zu reden. Im Gegenteil: Wer jammert, sagen sie, bereitet den Boden, um Neues zu schaffen, Veränderungen anzugehen und damit aus der Jammerecke herauszukommen.
#Jammern für´s Wir-Gefühl
Jammern hat in Deutschland auch eine soziale Funktion. Ob über das Wetter, die Politik oder das Gesundheitssystem – gemeinsames Jammern verbindet schnell Menschen, etwa im Wartezimmer oder an der Bushaltestelle. Dieses „Luxusjammern“ auf hohem Niveau, ein Mix aus Langeweile und Unterforderung, ist den meisten bewusst. Doch es unterscheidet sich von ernsthaften Klagen: Wer etwa in Israel unter Raketenbeschuss steht, hat keine Zeit für Nebensächlichkeiten.
Warum jammern wir dennoch so gerne über scheinbar Unwichtiges? Jammernstärkt kurzfristig einen wichtigen Resilienzfaktor – die Fähigkeit, tragfähige Beziehungen aufzubauen. Der Austausch von Frust fördert das Wir-Gefühl: Wenn Nachbarn über die Politik klagen, stimmen viele mit ein. Jammern verbindet – zumindest kurzfristig.
#Jammern zur Entlastung
Wer jammert, spürt davor oft einen hohen emotionalen Druck. Der muss irgendwo raus. Jammern ist oft das Ventil dazu. Es hilft (kurzfristig) dabei Stress und Spannungen abzubauen. Wir machen uns Luft.
#Jammern, um Aufmerksamkeit zu erhalten
Wer Aufmerksamkeit braucht, wird eher auf die Frage „Wie geht es dir?“ ein achselzuckendes, seufzendes „Muss ja!“ von sich geben. In Deutschland wird in aller Wahrscheinlichkeit dein Gegenüber empathisch nachfragen: „Was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Und schon hat der Jammerer erreicht was er wollte: Trost, Empathie, Zuwendung, Aufmerksamkeit, ein offenes Ohr.
Und dann?
#Jammern ist ansteckend
Du wachst morgens auf, freust dich auf den Tag, bist voller Tatendrang. Und dann kommst du ins Büro und ehe du dich versiehst befindest du dich in einem Gespräch, in dem von deiner vorigen positiven Stimmung nicht mehr viel übrig ist.
Was ist passiert? Du bist in den Sog des Jammerns geraten sein. Dafür braucht es nicht viel: Es genügt eine Person, die über etwas jammert, um deine eigene Stimmung kippen zu lassen.
Dafür sind Spiegelneuronen verantwortlich. Diese Neuronen in deinem Gehirn sorgen dafür, dass du dich auf den emotionalen Zustand von anderen Menschen einschwingen kannst. Diese Nervenzellen sind außerdem dafür verantwortlich, dass wir – unbewusst – das Verhalten der Menschen in unserer Umgebung imitieren. Menschen steigen also auf Stimmungen ein, in denen sich ihr Gegenüber befindet. Das führt dazu, dass eine „Jammerstimmung“ von einer Person zur nächsten „überspringt“ – oder dass du sogar in das Jammern mit einstimmst.
Das kann so schnell gehen, dass wir hinterher „erwachen“ und feststellen: Das wollten wir gar nicht.
Willkommen im Jammertal
Wer dauerhaft in solchen Jammertälern stecken bleibt, wird sich selbst in eine Opferhaltung bringen. In diesem Tal fühlen wir uns ohnmächtig und hilflos. Schuld sind die anderen, die böse Welt, die Eltern, die Politiker. Mein eigener Handlungsspielraum wird überhaupt nicht mehr beachtet.
Ja, auch resiliente Menschen jammern und fallen hin und wieder in diese Opferhaltung. Aber je reflektierter und resilienter wir sind, desto eher akzeptieren wir Umstände, die wir im Moment nicht ändern können.
Akzeptanz – ein wichtiger Resilienzfaktor fungiert dabei als Türöffner: Wenn wir etwas erst einmal so annehmen, wie es ist – und zwar nicht nur kognitiv, sondern auch emotional – kommen wir zur Ruhe und unser inneres Stresslevel reguliert sich herunter. Erst aus der Ruhe heraus können wir eine neue Perspektive einnehmen und dann den ersten Schritt in Richtung Veränderung gehen.
Denn das ist inzwischen belegt: Wer jammert, will keine Veränderung.
Christen sollten mehr klagen und jammern dürfen – Echt jetzt?
Vor einigen Jahren entstand in der christlichen Lobpreisszene der Wunsch, dass doch bitte mehr Klage- und Jammersongs ins Repertoire aufgenommen werden sollten. Immer nur Halleluja, das hält kein Mensch aus. Und die Wirklichkeit der meisten Menschen sei eben eine andere. Untermauert wurde dieser Wunsch mit dem Hinweis auf die Psalmen, die Lobpreissongs des Alten Testaments.
Drei Gegenargumente gegen Jammern und Wege heraus
- Die wenigsten Psalmen enden mit dem Jammern. Daher – kurzfristiges und zeitlich begrenztes Jammern ist durchaus sinnvoll. Wenn wir beruflich oder privat herausfordernde Zeiten erleben, dann sagen wir manchmal bewusst: Lass und mal 5 Minuten jammern und schimpfen über diese Situation. Je bewusster wir ins Jammertal eintreten und dann bewusst auch wieder herausgehen, umso kürzer wird die Jammerzeit. Kürzlich lachte eine unserer Töchter und meinte: Hey, das waren noch keine 5 Minuten, ihr dürft noch weiter jammern.
- Dankbarkeit trainieren – In vielen Psalmen finden wir neben dem Jammern eine dankbare Erinnerung an die Hilfe Gottes in ähnlichen herausfordernden Situationen. Jammern alleine macht mich zum Opfer – hilflos dem Schicksal ausgeliefert. Forschende der Universität Berkeley fanden heraus, dass Dankbarkeitsübungen den präfrontalen Cortex aktivieren – einen Bereich des Gehirns, der für emotionale Bewertungen und Problemlösungen zuständig ist.In einer Studie schrieben Studierende drei Wochen lang wöchentlich Dankesbriefe. Nach drei Monaten zeigten Hirnscans, dass ihr präfrontaler Cortex sensibler reagierte, wenn sie dankbar waren. Das Üben von Dankbarkeit macht das Gehirn empfänglicher dafür – ein sich selbst verstärkender Prozess. Wo Dankbarkeit regiert, bleibt kein Platz für Jammern.
- Halte dich von ständig jammernden Menschen fern. Dieser Ratschlag ist unglaublich wirkungsvoll. Dank unserer Spiegelneuronen kann unser Gehirn gar nicht anders, als in einer Art „Probehandeln“ die Emotionen des Gegenübers gedanklich „auszuprobieren“. Daher fühlen wir uns nach dem Kontakt mit bestimmten negativen und jammernden Menschen auf einmal ausgelaugt oder missmutig.
Lobpreis – Spiegelneuronen Gottes
Was bei Menschen funktioniert, funktioniert auch in der geistlichen Welt.
Halte dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.
Anbetung und Lobpreis ist der Moment, in dem wir uns Gott hinhalten. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen. Die Psalmen sind nicht einfach nur eine Sammlung netter Worship Songs. Im Judentum zählt das Buch der Psalmen zu den prophetischen Büchern.
Viele Psalmen weisen den Weg in den Neuen Bund, hin zu Jesus und seinem vollbrachten Werk am Kreuz.
Wer die Briefe des Neuen Testaments aufmerksam durchliest, findet kein Jammern und Wehklagen. Dafür Lobpreis im Gefängnis, Zukunftsorientiertheit nach Steinigungen, Verfolgungen, Schiffbrüchen, Hunger, Kälte.
Wer sich dem Angesicht Gottes aussetzt, wird die Emotionen Gottes, sein Licht, seine Gedanken, sein Handeln widerspiegeln. Mitten in einer erschütterten und zerstörten Welt wird er seinen Blick heben und Gottes Herrlichkeit sehen können.