»Erfolgreiche Menschen stehen um vier Uhr morgens auf.«
In einer Zeit, in der ich Teil eines Unternehmer-Movements war, war das einer der Standardsätze unter uns. Inzwischen habe ich sie alle gelesen, die Biografien der weltweit erfolgreichen Unternehmer. Menschen, die es zu etwas gebracht haben, sind Frühaufsteher. Was soll ich sagen? Ich gehöre nicht dazu. Ich brauche Zeit am Morgen, Zeit, um wach zu werden, Zeit für meinen Kaffee, Zeit mit Gott.
Die Selbstständigkeit war meine Rettung. Selbst entscheiden, wann und wie mein Tag beginnt und endet. Arbeite ich deshalb heute weniger als im Angestelltenverhältnis? Mein Eindruck ist: Nein, im Gegenteil. Ich arbeite effektiver und effizienter.
Ich kenne meinen Biorhythmus und kann ihn heute besser leben als noch zum Beispiel in meinem Beruf als Krankenschwester, mit Früh-, Spät- und Nachtdienst. Und was verraten uns die Lebensgeschichten von anderen Christen? In manchen Biografien, von Wüstenmönchen bis zu großen Evangelisten der Heiligungsbewegung, finde ich ebenfalls das Thema der Frühaufsteher.
Lange Zeit entstand bei mir der Eindruck: Besonders geistliche und heilige Menschen stehen früh am Morgen auf und beten dann stundenlang. Wow! Davon bin ich meilenweit entfernt. Irgendwann aber dämmerte mir, dass es damals noch keine Glühbirnen gab. Menschen im Mittelalter standen auf, wenn die Sonne aufging – im Sommer um 4 Uhr, im Winter entsprechend später – und gingen bei Sonnenuntergang wieder schlafen – im Sommer vielleicht erst um 22 Uhr, im Winter um 5!
Biphasischer Schlaf
Mein Leben mit dem Leben eines Menschen aus dem Mittelalter zu vergleichen, wäre fast genauso wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Interessanterweise hatten Menschen im Mittelalter einen sogenannten biphasischen Schlaf. Sie gingen zum Beispiel um 6 Uhr abends zu Bett, schliefen drei bis vier Stunden, also etwa bis um 22 Uhr. Standen dann auf und waren zwei bis drei Stunden wach, um danach nochmals drei bis vier Stunden zu schlafen.
Wach zu werden mitten in der Nacht war damals kein Problem. Niemand ging zum Arzt wegen Schlafstörungen. Man stand auf, legte im Winter noch etwas Holz nach, sinnierte über das Leben, trank ein Glas Wein und sprach mit den Menschen, mit denen man zusammenlebte. Und dann legte man sich wieder hin.
Mit der Erfindung der Glühbirne durch Thomas Edison haben wir die Nacht zum Tag gemacht. Und ich ertappe mich dabei, wie ich selbst in meinem Alltag so viel Aktivität wie möglich unterbringe. Noch dieses Video anschauen, dieses Buch querlesen (ich habe tatsächlich während meiner Coachingausbildung gelernt, wie man zum Schnellleser wird!), beim Kochen noch einen wichtigen Podcast hören.
Carpe Diem
Nutze den Tag! Das macht Spaß – bis zu einem gewissen Punkt. Wenn ich aber meine Grenzen als Mensch nicht wahrnehme und akzeptiere, geht der Schuss nach hinten los.
War früher alles besser? Ich bin ein Fan der Highlander-Saga »Outlander« – einer Mischung von Historie und Science-Fiction. Eine junge Frau aus Schottland reist durch einen Steinkreis aus dem Jahr 1946 ins Jahr 1743.
200 Jahre früher wird das Leben härter, aber auch einfacher. Es fehlen Optionen. Das Leben ist, wie es ist. Nein, ich will ein Leben im 18. Jahrhundert nicht schönreden. Und doch glaube ich, dass unsere Multioptionsgesellschaft gepaart mit einer ständigen Erreichbarkeit in vielen Fällen ein Fluch geworden ist.
Multioptionsgesellschaft – alles – immer – sofort
Als vor 30 Jahren der Soziologe Peter Gross mit diesem Begriff um sich warf, war dieses Wort quasi Science-Fiction. In seinem gleichnamigen aufwühlenden Buch beschreibt Gross eine Gesellschaft, die alle traditionellen Verpflichtungen aufhebt und sich stattdessen den unzähligen Optionen hingibt. Alles ist möglich. Jetzt. Sofort.
Das Leben selbst wird zu einem »Guinnessbuch der Rekorde«: höher, schneller, weiter. Was wir heute leben, ist tatsächlich eine Multioption nach der anderen – faszinierend und auf der anderen Seite auch beängstigend.
Schülern steht es nach einem Schulabschluss frei, zwischen über 320 Berufen und 2 100 Bachelorstudiengängen wählen zu dürfen bzw. zu müssen. Das führt fast zwangsweise zu Überforderung, Stress und Unsicherheit. In meiner Arbeit als Karriereberaterin erlebe ich nicht selten junge Menschen, denen im Gewirr der Optionen der Durchblick fehlt.
Und die sich dabei Sorgen machen: Was, wenn ich das Falsche wähle. Hier ist es mir besonders wichtig, gläubigen jungen Menschen das Prinzip der geistlichen Führung durch das innere Zeugnis vorzustellen.
Multioptionschurch
Auch die Gemeindelandschaft hat sich verändert. Beinahe für jedes Alter gibt es die entsprechende Gemeinde. Live vor Ort, oder doch lieber hybrid? Online? Gemeindehopping? Heute hier – morgen da?
Krisen und Herausforderungen müssen heute weder im Beruf noch im Privatleben lange ausgehalten werden. Überall ist es möglich, wieder zu gehen. Und so nehmen Stresserkrankungen, Depressionen und Ängste nicht nur deshalb zu, weil Chefs narzisstischer und Kollegen neurotischer werden, sondern auch, weil alles möglich ist und ich mich immer und jederzeit neu erfinden kann. (…)
Werde wieder zum Human BEING
(…) Was die Schlange bei den ersten Menschen macht, wird sie ab jetzt durch alle Zeitalter versuchen. Sie wird dem Menschen einreden, dass das was er ist, nicht ausreicht. Dass der Mensch etwas tun muss, um sich Gott nähern zu können. Hier wird aus dem Human Being ein Human Doing.
Genau hier beginnt unsere Leistungsgesellschaft. Hier beginnt die Suche nach dem Sinn in der Arbeit. Hier beginnt das kollektive Burn-out der Menschen. Das »Nie-Genug«. Arbeiten bis zum Umfallen. Weil es nie reicht. Und weil eine innere Schlange uns immer wieder zuflüstert: Um Gott zu gefallen, musst du mehr tun. Du musst deine Berufung finden. Den perfekten Platz in dieser Welt. Und wehe, das gelingt dir nicht.
Dann kann es sein, dass du komplett vorbeilebst an dem, was Gott für dich hatte. Berufung wird zum Angstthema Nr. 1 bei vielen Menschen. Der richtige Job, der Partner, die Gemeinde. Und um aus den vielen Optionen die eine richtige Wahl zu treffen, muss ich natürlich alles ausprobieren.
FOMO – Fear of missing out.
Die Angst, etwas Entscheidendes zu verpassen. Hier kommt die Lösung. Ja, der Boden, auf dem wir leben, ist nach wie vor verflucht. Die Welt lebt, stöhnt und leidet unter den Folgen des Sündenfalls.
Schweiß, Stress und Unruhe sind das Produkt einer gefallenen Welt. Wir Christen aber leben als Geistwesen in der Welt, aber nicht von der Welt. Wir erleben, dass Stress zunimmt. Wir sehen, dass Menschen vergehen vor Angst, sich falsch zu entscheiden. Wir leiden mit, weil Unruhe und Unfrieden immer mehr um sich greifen. Wir sind aber nicht dazu verdonnert, genau das mitzuleben.
Werde zum Aussteiger
Wir müssen kein Leben unter Stress und Panik erleiden. Wir können aussteigen und ein höchst begünstigtes Leben unter Gnade und Segen und Überfluss erfahren. Kurz bevor Jesus ans Kreuz geht, trifft er sich noch einmal mit allen seinen Jüngern, um mit ihnen das letzte Mal Passah zu feiern.
Dabei gibt es diese seltsame Szene, in der Jesus vom Esstisch aufsteht, sein Obergewand ablegt und sich stattdessen eine Dienerschürze anlegt. Bevor er das tut, werden wir mithinein genommen in die Gedanken Jesu:
Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott ging – da stand er vom Mahl auf, legte seine Kleider ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich.
Johannes 13,3-4
Jesus beginnt seine »Arbeit«, seinen Dienst an den Jüngern nicht, um etwas zu bekommen. Er arbeitet nicht, um etwas zu verdienen. Er dient, weil er weiß, dass ihm bereits alles gehört.
Aus: Cornelia Schmid – Dein Land der Ruhe – SCM 2025
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