Das Unwort des Jahres wird für mich das Wort systemrelevant. Welcher Beruf ist wichtig, welcher kann weg?
In den letzten Wochen war überall zu lesen und zu hören, wer alles systemrelevant in Deutschland ist: Verkäuferinnen und Kassierer – klar, ohne die kämen wir nicht an Nahrungsmittel und das vielgerühmte Klopapier.
Systemrelevant ist vor allem der Medizinische Beruf: Für Krankenschwestern und pfleger und Ärzte, Apotheker und die Mitarbeiter der Gesundheitsämter wird regelmäßig abends um 20 Uhr applaudiert.
Am Muttertag bekomme ich euphorische Nachrichten in den sozialen Medien über die systemrelevanten Mütter, die im Homeschooling der Kinder und ihrem eigenen Homeoffice übermenschliches leisten. Wo sind eigentlich die Väter, frage ich mich bei mancher Nachricht? Zumindest bei der Zeugung waren sie systemrelevant.
Von welchem System reden wir?
Die Diskussionen der letzten Wochen machen klar: Systemrelevant sind Menschen, die in einem Beruf arbeiten, die unsere Wirtschaft und unser Gesundheitswesen am Laufen halten. Kinder sind wieder systemrelevant. Kitas sollen öffnen, damit die Eltern wieder arbeiten und die Wirtschaft ankurbeln können.
Sind Hartz 4 Empfänger systemrelevant? Oder eher systembelastend?
Sind Babys im Mutterleib, die auch während einer Pandemie abgetrieben werden nicht systemrelevant?
Der Begriff Systemrelevanz kommt eigentlich aus der Finanzbranche.
Systemrelevant sind Finanzinstitute, deren wirtschaftlicher Niedergang aufgrund von Größe und internationalen Beziehungen einen negativen Dominoeffekt bei anderen Kreditinstituten auslösen.
Wenn dadurch das gesamte Finanzsystem instabil werden würde, sorgt der Staat dafür, einem systemrelevanten Beruf unter die Arme zu greifen, Rettungsschirme aufzuspannen.
Systemrelevant = besonders schutzbedürftig.
Gestern Morgen bekomme ich einen Anruf einer älteren Dame. Sie fragt mich an, ob ich mir vorstellen könnte, als Referentin in den Frauenkreis ihrer Gemeinde zu kommen. Fast entschuldigend fügt sie hinzu: „Da kommen nur noch alte Frauen.“ Wir kommen daraufhin ins Gespräch darüber, wie es gerade alten Menschen in dieser Krise geht.
Menschen, die im Moment mehr zu Hause sitzen, als andere. Die in den Nachrichten ständig hören, dass Corona vor allem in Altenpflegeheimen zuschlägt. Was macht diese Krise mit ihnen? Sehr schnell sage ich als Referentin zu. Warum?
Weil diese Menschen für mich systemrelevant sind. Das ist die Generation, die den 2. Weltkrieg teilweise noch persönlich erlebt hat. Das sind die Kriegskinder, die nach dem Krieg ihr Leben neu aufgebaut haben. Das sind Menschen, die nach der Krise von vorne angefangen haben.
Ihnen möchte ich zuhören. Von ihnen möchte ich lernen, was Resilienz ist, diese menschliche Stärke und Widerstandskraft, die mich wieder aufstehen lässt und mir den Mut schenkt weiterzumachen. Das haben sie erlebt und durchlebt.
Schock im Beruf
Anfang März gab es gute und hilfreiche Tipps, wie man die Zeit zu Hause gestalten sollte: Früh aufstehen und einen geregelten Tagesablauf sollte ich einhalten. Nicht in der Jogginghose im Homeoffice sitzen. Sport treiben, gesund essen. Mich nicht mit der Krise beschäftigen, sondern mein Gehirn mit positiven Nachrichten füllen.
Ganz ehrlich – mein Leben sah Anfang März ganz anders aus. Nachdem unser Business den Bach runter ging, stand ich unter Schock und irgendwie neben mir. Geregelter Tagesablauf? Fehlanzeige! Sport treiben? Ähm! Ich war froh, wenn es Abend war und wieder ein Tag überstanden.
Ich konnte plötzlich nicht mehr träumen. Normalerweise bin ich neugierig auf das Leben mit all seinen Möglichkeiten. Vor Corona waren mein Mann und ich dabei, Pläne zu schmieden. Nächstes Jahr macht unsere jüngste Tochter Abitur. Und wir überlegten, was wir danach machen. Eventuell umziehen? Wohin? Ein Sabbatical, oder ein längerer Urlaub, nur wir zwei? Mein Kopfkino kreierte Bilder und Möglichkeiten. Und plötzlich wurde daraus ein Schwarz-weiß Stummfilm.
Es hat eine ganze Weil gedauert, bis mir klar war: Lass dir Zeit, verarbeite erst einmal diesen Schock. Du musst jetzt nicht gut drauf sein, nach vorne schauen, sofort die Chance in der Krise sehen. Es geht im Moment nicht. Dann ist das so.
Zerbrochenes Leben nach der Krise
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Esti. Sie ist über 80 Jahre alt und lebt in Haifa in Israel. Mit 5 Jahren hat sie in Polen, ihrer Heimat, die Schrecken des Naziregimes erlebt. Gemeinsam mit ihrer 2-jährigen Schwester hat sie 9 Monate im Wald gelebt, immer in der Angst, von SS-Soldaten entdeckt zu werden. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter erschossen wurde. Esti ist für mich systemrelevant:
Esti und die
Kriegskinder aus dem Frauenkreis sind für mein System relevant, bedeutsam. Sie
zeigen mir, dass es in dieser Welt eine Menge Krisen gibt, von denen ich nichts
ahne und die nichtsahnend über mein Leben wüten.
Sie zeigen mir aber auch, dass es ein Leben nach der Krise gibt.
Esti wandert nach dem Krieg nach Israel ein. Sie heiratet und gründet eine Familie. Von Beruf Krankenschwester kümmert sie sich viele Jahre nicht nur um Israelis, sondern genauso um Araber, Palästinenser, Syrer – Menschen, die ihr immer noch den Tod wünschen. Sie zeigt mir, dass das Leben weitergeht, mit zerbrochenem Herzen, und trotzdem ohne Bitterkeit.
In meinem Umfeld erlebe ich zur Zeit einige systemrelevante Menschen, die niemand kennt, die keine digitale Bühne haben. Für mich sind sie bedeutsam, weil sie zuhören, weil sie ehrlich von ihren Krisen erzählen, weil sie ihre und meine Gefühle nicht unter den Teppich kehren und weil sie mir dadurch Hoffnung und Mut schenken.
Und was bedeutet das praktisch für meinen Beruf?
- Suchen Sie das Gespräch mit Menschen in Ihrem Umfeld, die zurzeit keiner wahrnimmt.
- Wie können Sie Menschen ermutigen, damit die ihren Platz in der Gesellschaft wieder als Systemrelevant wahrnehmen?
- Auch wenn Ihr Leben in der Krise gerade zerbricht, was geht noch, welche Stärken können Sie gerade jetzt aktivieren?
Sie brauchen einen Menschen, der von Außen auf Ihre berufliche Situation schaut?
Wir sind gerne für Sie da!
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